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Die Aufmerksamkeitsökonomie der Krise

Sven Winnefeld

Ist in Zeiten von COVID-19 überhaupt noch Platz für Unternehmenskommunikation? Wir werfen einen Blick auf die Zahlen.

Si tacuisses, philosophus manisses. Oder auf Deutsch: Man sollte nie eine gute Gelegenheit verpassen, einfach mal die Klappe zu halten. Lobreden auf das strategische Schweigen hört man von professionellen Kommunikatoren nur selten – was zugegebenermaßen nachvollziehbar, aber auch ein wenig bedauerlich ist.

In der aktuellen Krise scheint diese Option für Unternehmen jedoch zunehmend an Attraktivität zu gewinnen: Weshalb nicht einfach mal für eine Weile wenig bis gar nichts sagen? Solche Überlegungen sind nur teilweise dem wachsenden Budgetdruck geschuldet, viel öfter beziehen sie sich auf die schlagartig veränderte mediale Aufmerksamkeitsökonomie. Denn COVID-19 dominiert nicht nur seit Wochen unsere Lebensrealität, sondern auch den öffentlichen Diskurs. Auf den ersten Blick bleibt unter diesen neuen Gegebenheiten für Marken- und Produktkommunikation wenig Raum.

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68 Prozent aller veröffentlichten Artikel haben COVID-19-Bezug

Eine von uns erstellte Analyse des Onlineangebots der deutschen Tages- und Wirtschaftspresse macht deutlich, wie sehr COVID-19 aktuell die medialen Debatten beherrscht. Ausgewertet haben wir mehr als 120.000 Artikel, die seit dem 1. Januar 2020 in den 15 reichweitenstärksten deutschsprachigen Publikationen erschienen sind.

Tages- und Wirtschaftspresse: Anteil an Artikeln mit Bezug zu COVID-19 am Gesamtaufkommen

Zu Beginn des Jahres war COVID-19 dabei noch ein Thema unter vielen. Doch spätestens seit den ersten Märzwochen diktierte die eskalierende Krise ausnahmslos allen untersuchten Medien die Redaktionsplanung. Betrachtet man die letzten vier Wochen isoliert, dann weisen 68 Prozent aller in der Tages- und Wirtschaftspresse veröffentlichten Artikel einen Bezug zu COVID-19 auf. Tagesschau.de kommt in diesem Zeitraum mit 73 Prozent auf den höchsten Anteil an entsprechenden Artikeln. Focus.de mit 55 Prozent auf den niedrigsten.

Ausgewählte Medien: Anteil an Artikeln mit COVID-19-Bezug

  • Spiegel.de
  • FAZ.net
  • Welt.de
  • Tagesschau.de
  • Bild.de
  • T-Online.de
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Wie viel Corona ist gesund?

Die Dauerbeschallung erfüllte zunächst den wichtigen Zweck, möglichst viele Menschen von der Notwendigkeit einer vorübergehenden Einschränkung ihrer persönlichen Freiheiten zu überzeugen, die sich dann wenig später in Form von Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen tatsächlich materialisierte. Dem immensen Angebot an Artikeln mit COVID-19-Bezug stand aber auch von Anfang an eine entsprechende Nachfrage gegenüber, denn die Aufrufzahlen sämtlicher Nachrichtenseiten schossen mit Beginn der Krise in die Höhe. Bereits im März verzeichneten die von uns untersuchten Publikationen durchschnittlich 52 Prozent mehr Besuche als noch im Februar.

Die WHO hält den gestiegenen Nachrichtenkonsum für bedenklich. Sie empfiehlt Verbrauchern in einem kürzlich veröffentlichten Merkblatt, sich dem konstanten Strom an Krisenmeldungen nicht öfter als ein- bis zweimal pro Tag auszusetzen, damit keine zusätzliche psychische Belastung entsteht.

Aber auch unabhängig von solchen Empfehlungen könnte das Interesse am Thema absehbar nachlassen. Aktuelle Daten von Google Trends legen sogar nahe, dass das bereits der Fall ist. Der (möglicherweise vorläufige) Höhepunkt des öffentlichen Interesses an COVID-19 lag demnach in Kalenderwoche 11. Das war die Woche, in der in Deutschland die ersten Todesopfer gemeldet wurden.

Suchinteresse an COVID-19 laut Google Trends
(100 = höchstes Suchinteresse im betrachteten Zeitraum)

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Gallische Redaktionsdörfer trotzen dem Virus

Trotz der beschriebenen Dominanz: Selbstverständlich dreht sich längst nicht die gesamte Berichterstattung um COVID-19. In der Tages- und Wirtschaftspresse kommen immerhin noch etwa ein Drittel der veröffentlichten Artikel ohne Virusbezug aus. Die Redakteure in den Fachressorts schreiben weiterhin über ihre angestammten Themen. Und in der Fachpresse – von der Computerwoche bis zur Lebensmittelzeitung – ist COVID-19 ohnehin weniger präsent.

Fachpresse: Anteil an Artikeln mit COVID-19-Bezug

  • Computerwoche.de
  • Immobilien-Zeitung.de
  • Lebensmittelzeitung.net

Auch die sechs von uns untersuchten Fachmedien verzeichnen aktuell einen Reichweitenzuwachs. Ihre Leser haben sich also nicht abgewendet, sondern verfolgen die Entwicklungen in ihrer Branche offenbar mit noch größerem Interesse als sonst. Printpublikationen erscheinen außerdem in der gewohnten Frequenz – und Redakteure haben trotz abgesagter Messen und verschobener Produktstarts die gleiche Zahl an Seiten zu füllen wie vor der Krise. In allen untersuchten Mediengattungen bieten sich für Marken- und Produktkommunikation somit auch weiterhin hervorragende Chancen.

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Alles Leben ist Problemlösen

Glaskugelexperten sämtlicher Disziplinen liefern sich längst eine Prognosenschlacht über das Ende der Krise und die „Zeit danach“. Dabei erlaubt der aktuelle Wissensstand noch nicht mal eine verlässliche Beschreibung der Gegenwart. Wie viele Menschen sind bereits erkrankt? Sind Erkrankte nach ihrer Genesung grundsätzlich gegen das Virus immun? Es existieren viele bekannte Unbekannte, die die meisten mittel- bis langfristigen Pläne zu reinen Gedankenspielen reduzieren.

Der Tag, an dem glückliche Menschen ausgelassen in den Straßen tanzen und der DAX wieder bei mehr als 13.000 Punkten steht, könnte noch eine Weile auf sich warten lassen. Deshalb bleibt uns nichts anderes übrig, als uns mit den aktuellen Gegebenheiten zu arrangieren und uns mutig den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen.

Der Unternehmenskommunikation bieten sich dabei mehr Möglichkeiten, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Konkrete Beispiele gefällig? Mein Kollege Florian Hohenauer schreibt in seinem aktuellen Blogpost über Webinare, Livestreams und virtuelle Meetings. Wer solche digitalen Formate meistert, verschafft sich gegenüber der Konkurrenz einen Wettbewerbsvorteil, der nicht nur im Marketing greift, sondern in allen Unternehmensbereichen, in denen Menschen miteinander kommunizieren.

Auch die obige Presseschau zeigt: COVID-19 dominiert zwar den öffentlichen Diskurs, aber es bleibt genügend Platz für Marken und Produkte. Gleichzeitig gehen die Debatten um die Makrotrends unseres Zeitalters – Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel – selbstverständlich weiter, manche scheinen durch die Verwerfungen der letzten Wochen sogar an Fahrt aufgenommen zu haben. Die Kommunikation für die Dauer der Krise auf ein Minimum herunterzufahren oder gar vollständig in Schweigen zu verfallen, dürfte deshalb für die meisten Unternehmen keineswegs opportun sein. Und wahrscheinlich auch nicht strategisch sinnvoll.